Not Too Big To Fail
Seit knapp 32 Jahren bin ich Anhänger von Manchester United. Die Story, wie es dazu gekommen ist, habe ich schon das ein oder andere Mal erzählt und ist ziemlich banal. Mir hat damals (ich war 9 Jahre alt) einfach der Name „Manchester United“ gut gefallen. Wegen Eric Cantona, dem König von Manchester, habe ich mich endgültig in den Verein verliebt. Mitte der 90er-Jahre hat beim Fußball im Turnunterricht fast jeder seinen Kragen aufgestellt. Zu meinem 30. Geburtstag habe ich von meinen Freunden ein authentisches unterschriebenes Trikot von ihm erhalten. Bis heute das beste Geschenk aller Zeiten.
Spiele von United konnte man in den 90er-Jahren natürlich nicht auf einem der fünf terrestrischen TV-Sender (FS1, FS2, ARD, ZDF, BR3) sehen, Ergebnisse verfolgte ich daher über den ORF-Teletext, Seite 215. Später dann ab 1995 dank SAT-Anlage auch an Samstagen „live“ über Ceefax, den mittlerweile nicht mehr existenten Teletext der BBC. Ich verbiete mir übrigens, mich als Gloryhunter zu bezeichnen. 1992/93 hatte United die erste Meisterschaft seit dem Jahre 1967 geholt. 1974 stieg man sogar für ein Jahr in die zweite Liga ab. Kurze Anekdote am Rande, besiegelt wurde der Abstieg durch ein Ferserl der kürzlich verstorbenen Vereinslegende Denis Law, der das letzte Jahr seiner aktiven Karriere nach 171 Toren für United ausgerechnet bei Manchester City hatte ausklingen lassen. Doch zurück zur ersten Meisterschaft nach 26 Jahren: Rekordmeister war zu diesem Zeitpunkt der FC Liverpool mit 18 Titeln, United hatte gerade erst Nummer 8 geholt. Was Liverpool-Anhänger in Anfield im Jahr 1994 zum Spruchband “Au revoir Cantona Man Utd … come back when you’re won 18!“ veranlasst hatte.
Was die nächsten 20 Jahre folgte, konnte wohl zum damaligen Zeitpunkt (mich inkludiert) niemand erahnen, oder besser gesagt erträumen. 12 weitere Meisterschaften (und die Übernahme des Titels „Rekordmeister“ vom Erzrivalen aus Liverpool) sowie zwei Champions League Triumphe in 1999 und 2008. Wobei ich das Finale in Barcelona gegen die Bayern vermutlich mehr als 10x gesehen habe. Ich habe es u.a. auch als VHS-Kassette mit dem Live-Kommentar von Peter Elstner daheim – nur habe ich schon lange keinen VHS-Spieler mehr. Die letzten fünf Minuten habe ich vermutlich öfters als 50x gesehen. Ich kann rund um die beiden Tore von Sheringham und Solskjaer jeden Pass und jeden Kommentar des britischen Kommentators mitkommentieren.
Ich habe übrigens auch nahezu alle Spieler-Biographien (u.a. Beckham, Keane, Ferdinand, Neville) und Bücher daheim, die sich um den Verein und seine Geschichte drehen. Bevor das damalige Premiere (heute sky) Spiele aus der Premier League in Österreich und Deutschland live übertragen hat, habe ich mir nach den Spielen (wenn vorhanden) Torvideos in schlechter Qualität aus irgendwelchen suspekten Messageboards (Gruß an das Web 1.0) heruntergeladen. Abseits von TV und illegalen PC-Downloads habe ich United mehrmals live gesehen (immer auswärts, darunter zweimal in Wigan, der hässlichsten Stadt, in der ich zweimal war,). Doch im Dezember 2012 ging mit dem ersten Besuch von Old Trafford (bei einem 2:0 gegen West Brom) ein Kindheits- bzw. Lebenstraum in Erfüllung.
Was an United so fasziniert, ist diese nahezu mythische Geschichte, beeinflusst durch die Tragödie des Flugzeugabsturzes von München, bei der 1958 sieben Spieler, darunter das Jahrhunderttalent Duncan Edwards umgekommen waren. Die Busby Babes mit einem Durchschnittsalter von 22 Jahren hätten den europäischen Fußball wohl über Jahre hinweg dominiert. Doch egal ob Busby Babes oder Fergie Fledglings (kommerziel bekannt unter „Class of 92“) – der Verein hat Generationen von eigenen Stars, oftmals auch aus der eigenen Region ausgebildet, von Duncan Edwards über David Beckham, Paul Scholes und Ryan Giggs bis zu Marcus Rashford und Kobbie Mainoo. Seit 1934 (!) ist in jedem Bewerbsspiel zumindest ein Spieler aus dem eigenen Nachwuchs im Matchday-Kader gestanden.
United war auch immer eine Institution im Nordwesten Englands. Man hat den gesellschaftlichen Auftrag nicht nur verstanden, sondern auch stets wahrgenommen. Auch Traditionen stand immer im Mittelpunkt. Die letztes Jahr verstorbene Kath Phipps war mehr als 55 Jahre als Rezeptionistin und Telefonistin bei United angestellt. Zu ihrem Begräbnis kam alles, was Rang und Namen hatte, u.a. auch Alex Ferguson und David Beckham. Das ist nur eine Story, die stellvertretend für viele ist. Das Motto von Barcelona „more than a club“ war definitiv auch bei United anwendbar. Die Betonung liegt auf „war“.
Vor 20 Jahren war United mehr als schuldenfrei. Aufgrund der kontinuierlich aufgebauten finanziellen Übermacht (Sponsoring, Champions League Prämien, Matchday-Tickets und natürlich TV-Rechte) konnte man Blockbuster-Transfers wie Ferdinand, Veron oder Van Nistelrooy nahezu aus der Portokasse zahlen. Durch die Übernahme der Glazers, den koboldähnlichen, Trump-unterstützenden Turbokapitalisten aus Florida im Jahr 2005 wurde der Verein allerdings mittel- bis langfristig aus der Bahn geworfen. Die Glazers hatten und haben zu keinem Zeitpunkt Interesse an Fußball oder an Titeln.
Das einzige Interesse sind und waren die finanziellen Mittel des Unternehmens Manchester United Football Club. Die Glazers haben sich seit 2005 mehr als 1.2 Milliarden Pfund (also gut fünf Neymars) aus dem Verein herausgenommen und ihn damit wie eine (Cash) Cow gemolken – und gleichzeitig auch Schulden an den Verein überladen. Aktuell ist United mit knapp einer halben Milliarde Pfund verschuldet und damit herrscht Alarmstufe Rot rund um FFP – doch mehr dazu später.
Lange Zeit funktionierte United trotz der Machenschaften der Glazers noch einigermaßen gut, v.a. dank der sportlichen und wirtschaftlichen Fähigkeiten des Duos Alex Ferguson und David Gill (CEO). Seit beide 2013 abgedankt haben (wohlwissend, dass man den Zenit überschritten hat), hat United keine Meisterschaft mehr geholt. Man war sogar stets weit davon entfernt. Mit Ed Woodward als CEO durfte jahrelang ein Investmentbanker die Geschicke des Vereins leiten, einer Marionette der Glazers, der aber zugegebenermaßen nahezu alles zu Geld machen konnte, das nicht bei Drei auf den Bäumen war. So hat United u.a. einen eigenen Rasenmäherpartner und einen eigenen Nudelpartner in Südkorea.
Aber zurück zu den sportlichen Geschicken. Seit dem Abgang von Sir Alex hat es keinen Sportdirektor gegeben. Die Herren Moyes, Van Gaal, Mourinho, Solskjaer und Ten Hag waren größtenteils selbst für Transfers verantwortlich bzw. mussten sich nur den Sanktus von Woodward holen. Und so wurden Superstars wie Pogba, Lukaku, Di Maria, Cavani oder Casemiro verpflichtet, ohne jede Logik und ohne tieferen (spielerischen) Sinn. Es gab einfach keinen mittelfristigen und schon gar keinen langfristigen Plan. Der kurzfristige Erfolg in Cupbewerben wie Europa League, FA-Cup oder League Cup hat zumindest an der Oberfläche mehrmals die gröbsten Risse überdecken können.
Doch in der Premier League ist man ist Jahr für Jahr tiefer in die Mittelmäßigkeit abgedriftet. Obwohl man Stand heute lt. Forbes noch immer drittwertvollster Verein der Welt ist (Anm. die brand value des Vereins überstrahlt noch immer alles), spielt man in der Premier League (und auch in der Champions League) nur mehr eine Statistenrolle – falls man sich für die Königsklasse überhaupt qualifiziert, was in den letzten Jahren eher Ausnahme als Standard war.
Nach und nach wurde auf einmal das Erreichen der Top4 und damit die direkte CL-Qualifikation als Erfolg angesehen. Man stelle sich vor, Bayern, Real oder Barcelona würden dies tun. Unvorstellbar? Unvorstellbar! Mittlerweile ist man auf Platz 15 (!!) angekommen, war sogar kurz ernsthaft in den Abstiegskampf involviert, könnte sich aber mit einem Sieg gegen Aufsteiger Ipswich morgen endgültig davon verabschieden. Die Champions League hat man zuletzt zweimal nacheinander verpasst, was auch heuer der Fall sein wird, wenn man nicht wundersamerweise die Europa League gewinnen sollte.
Endplatzierungen von United der letzten 20 Jahre inkl. aktuelle Position in 2025 (Grafik: eigene Darstellung)
Als ich mir nach dem Verkauf von 25% der Vereinsanteile an Jim Ratcliffe (seines Zeichens ein Brexiteer, der nach dem Brexit viele seiner Unternehmen aus dem UK abgesiedelt hat) gedacht hatte, dass es nach der Regentschaft der Glazers nicht mehr schlimmer kommen könnte, habe ich mich geirrt. Nachdem man schon 2024 knapp 500 (teilweise langjährige) Mitarbeiter entlassen hatte, hat man in dieser Woche die Entlassung von 200 weiteren Mitarbeitern verkündet. Dazu gibt es keine Gratis-Suppen und -Sandwiches mehr für Clubangestellte. Weil man dadurch pro Jahr bis zu 1 Mio GBP einsparen kann. Also ziemlich genau das, was der übergewichtige, überalterte Bankdrücker Casemiro in drei Wochen (sic!) verdient.
Durch Massenentlassungen und unpopuläre Maßnahmen entfremdet man sich zunehmend von seiner Basis. Im Gegensatz zum poshen London wird der Nordwesten Englands noch immer von seiner Arbeitermentalität und der Industrie geprägt. Durch (massive) Erhöhungen der Kartenpreise will Ratcliffe weitere zusätzliche Einnahmen generieren. So wurde unter der Saison das günstigste Ticket auf 66 GBP erhöht. Mittelfristig wird man primär jahrzehntelange Dauerkartenbesitzer von den Tribünen vertreiben, die ihre Dauerkarten von Generation zu Generation weitergegeben hatten und sich diese nicht mehr leisten können, was einen weiteren Schritt zu einem seelenlosen Stadion bedeutet, wie man es in London schon zur Genüge kennt.
Apropos Old Trafford. Das undichte und rattenüberlaufene Theatre of Dreams ist in einem erbärmlichen Zustand und ähnelt damit mehr einem Theatre of Nightmares. Und damit sind nicht einmal die Performances der aktuell 14.-besten Heimmannschaft der Liga (4-2-7, 17:22 Tore) gemeint. Es gibt seit letztem Jahr konkrete Pläne und sogar eine Kommission für einen möglichen Neubau des Old Trafford. Ein „Wembley des Nordens“ mit knapp 100.000 Plätzen soll entstehen. Geld für das Milliardenprojekt will man u.a. von Land und Bund haben, wie man in Österreich sagen würde. Was sich allerdings schwierig gestalten könnte, weil das UK aus dem letzten Loch pfeift, der Brexit vieles verschlimmert hat. Es braucht daher schon ziemlich viel Vorstellungskraft, um dieses Projekt kurz- bis mittelfristig umgesetzt zu sehen.
Im kommenden Sommer wird man am Transfermarkt aufgrund der FFP-Regeln (Financial Fair Play) auch ein Verkäufer und kein Käufer sein, obwohl der Kader sowieso nur mehr bestenfalls mittelmäßig ist. FFP wird den vermutlichen Abgang von Nachwuchs-Juwelen wie Garnacho oder Mainoo bedeuten. Die Offensive besteht neben Garnacho noch aus Hojlund und Zirkzee, die zusammen in dieser PL-Saison fünf Tore erzielen konnten, zuletzt Anfang Dezember trafen, also vor über drei Monaten. Lange vorbei die Zeiten, als Rooney, Ronaldo, Tevez und Berbatov das Offensivquartett bildeten. Vereine wie Aston Villa, Brighton oder Bournemouth verfügen aktuell über bessere Offensivoptionen. Was erneut mit der Planlosigkeit der letzten 10+ Jahre zusammenhängt.
Die sportliche Zukunft ist grau bis dunkelgrau und die kürzlich ausgerufene „Mission 21“ von CEO Berrada ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten. Solche Missionen sind auch in Österreich nicht besonders erfolgreich, wenn ich mir diesen Seitenhieb erlauben darf. Das Leben in und von der Vergangenheit ist eine weitere Parallele. Aber nicht verwunderlich, dass man (und auch ich) lieber über Charlton, Best, Law, Robson, Keane, Cantona, Giggs, Scholes, Rooney und Ronaldo spricht als über Zirkzee, Hojlund und Dalot. Also über Spieler, die vor 10-15 Jahren nicht mal auf der Ersatzbank Platz gefunden hätten.
Rund um die Weltwirtschaftskrise bzw. die Bankenkrise 2008 gab es das Zitat „too big to fail“. Der Manchester United Football Club beweist seit geraumer Zeit, dass dieses Sprichwort auch im Fußball keine Gültigkeit besitzt. Aufgrund von Geldgier getriebener „parasitärer“ Besitzer, einer jahrelangen Planungs- und Ahnungslosigkeit und fortwährenden Fehlentscheidungen ist man zur Lachnummer geworden, erreicht Monat für Monat neue Sphären des noch nie da gewesenen Versagens und bietet sich für eine epochale Case Study für Management-Studenten auf der ganzen Welt an.
Ich persönlich hätte kein Problem damit, den Verein weiter zu unterstützen, wenn es bloßes sportliches Versagen wäre. Doch der neuartige Aspekt des Wahnsinns und der Seelenlosigkeit von Ratcliffe & Co. rund um Entlassungen, Preiserhöhungen und Luftschlösser (Stadionneubau) macht es für mich schwierig, diesen Verein noch unterstützen oder gar lieben zu können.
Früher habe ich mich auf tagelang auf Spiele gefreut und habe jedes Spiel aufgesogen. Heute gehe ich schon seit Monaten den allermeisten Spieltagen gänzlich aus dem Weg und beschäftige mich stattdessen mit anderen Dingen. Während des 2:2 in Everton am vergangenen Samstag habe ich beispielsweise die Garage aufgeräumt. Auch wenn ich keine Spiele mehr schaue und man Stück für Stück abstumpft, tut es aber trotzdem noch immer weh, den unvergleichbaren sportlichen und charakterlichen Niedergang dieses einstigen Giganten des Weltfußballs miterleben zu müssen. Ich habe keine Ahnung, wie tief United noch sinken kann – nämlich sowohl auf dem Feld als auch neben dem Feld – aber ich mache mich auf das Schlimmste gefasst.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!